Long distance-Pendeln: Wenn man abends nicht nach Hause kommt

 

Ein wesentliches Bedürfnis bei der Suche nach Wohnraum: der tägliche Weg zur Arbeit soll nicht allzu groß sein. Es gibt allerdings Karrieren, bei denen das nicht möglich ist – es sei denn, man würde alle paar Jahre umziehen. Ulrich Beck kann davon viel erzählen: Der gebürtige Münchner pendelt seit mehr als 20 Jahren zwischen Bremen und verschiedenen  Arbeitsorten – etwa in Spanien oder Bayern – hin und her.

Text: Sandra Lachmann, Fotos: privat, Airbus

Wenn Ulrich Beck montagsmorgens am Bremer Flughafen sitzt, ist die Atmosphäre vertraut. Es sind häufig die gleichen Gesichter, die mit ihm auf den Flieger nach München warten. »Pendlergemeinschaft« nennt der Chief Financial Officer einer Airbus-Tochtergesellschaft das. »Nur eben mit dem Flieger statt mit dem Auto.« Seinen Koffer hat er am Abend zuvor mit der gleichen gelassenen Routine gepackt, mit der er am nächsten Morgen gegen halb 6 sein Zuhause in Bremen-Schwachhausen verlassen und den Weg zum circa sieben Kilometer entfernten Flughafen absolviert hat. 100 Meter von seiner Haustür entfernt hält die Straßenbahn-Linie 6, 21 Minuten braucht sie bis zur Abflughalle. Manchmal springt Ulrich Beck auch in ein Taxi, mit dem sind es maximal 15 Minuten. »Wenn ich anderen davon erzähle, wie schnell man in Bremen am Flughafen ist, können die meisten das kaum glauben«, schildert er aus Gesprächen mit anderen Pendler:innen. »Und 20 Minuten ist ja fast schon viel. Wer links der Weser wohnt, kann in zehn Minuten am Check-In sein.«

 

»Pendeln ist immer wieder ein Balanceakt.«

 

Seit 1995 lebt Ulrich Beck in Bremen. Ein Jobangebot und die Perspektive, dass auch seine Frau, die damals in Zürich arbeitete, in der Hansestadt bald eine Stelle bekommen würde, brachten den inzwischen 57-Jährigen an die Weser. Dort ist seine Branche nämlich breit und erfolgreich vertreten: die Luft- und Raumfahrt. Seit bald 30 Jahren arbeitet der Industrie- und Diplomkaufmann inzwischen bei Airbus – in unterschiedlichen Positionen, an unterschiedlichen Standorten. Seit mehr als 20 Jahren macht ihn das mit Unterbrechungen zum Long distance-Pendler. Aktuell ist Ulrich Beck drei bis vier Tage in der Woche nicht zuhause. »Das ist etwas, was das Geschäft, die Projekte und die Arbeitsteilung in dieser Industrie mit sich bringen.«  Und was immer auch ein Balanceakt sei. Emotional und organisatorisch.

 

Knapp die Hälfte aller Beschäftigten in der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie arbeiten an 27 Airbus-Standorten. Neben seinen umfassenden Aktivitäten im Verkehrsflugzeug- und Hubschraubergeschäft entwickelt Airbus modernste Technologien und maßgeschneiderte Produkte zur Stärkung der nationalen Sicherheit und ist eines der größten Raumfahrtunternehmen der Welt.

»Sobald man nicht mehr für sich allein Entscheidungen trifft, sondern auch eine Partnerin bzw. einen Partner oder sogar Kinder mit im Spiel sind, muss man sich ganz genau überlegen, was man tut. Und sich immer wieder verständigen«, so Beck. »Ich habe um mich herum in den vergangenen Jahrzehnten auch Familien scheitern sehen. Entweder weil Partnerinnen und Kinder zugunsten der Karriere des Mannes ständig umgezogen sind oder aber jemand das Pendeln und damit die Abwesenheit von Zuhause überstrapaziert hat.«

 

Lösungen für die ganze Familie sind gefragt

 

In der heutigen Zeit, in der immer mehr Männer und Frauen Beruf und Familie gleichberechtigt aufteilen wollen, würde diese Tradition des »Mit-Umziehens« immer weniger funktionieren. »Hier sind auch Arbeitgeber gefragt, andere Lösungen anzubieten oder zu unterstützen. Davon auszugehen, dass jemand sein Haus verkauft und zugunsten einer hochdotierten Stelle mal eben mit Kind und Kegel umzieht, wird immer weniger funktionieren.«

Unternehmen, die das von ihren Bewerber:innen erwarten, würden außerdem hohe Fluktuationsraten riskieren. »Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass Expatriates (Anm. der Redaktion: international tätige Fachkräfte) häufig auf Druck des Partners bzw. der Partnerin kündigen, wenn diese sich am neuen Standort nicht wohl fühlen. Daher sollten sowohl Onboarding-Prozesse als auch Versetzungen von Arbeitgebern mit Umsicht begleitet werden.«

Er selbst wäre nie in das Standort-Hopping, das er bei anderen beobachtet, eingestiegen. Seine Frau und er hätten bewusst – auch zugunsten der Tochter –  entschieden, dass die Hansestadt das gemeinsame Zuhause, die »home base«, bildet. »Mir war wichtig, dass ich immer eine feste Bindung an Bremen habe. Ich habe daher in einigen Phasen, wo es vielleicht sinnvoll gewesen wäre, absichtlich darauf verzichtet, mir eine zweite Wohnung zu organisieren.« Sein jetzige Ehrenamt als Vorsitzender des Wirtschaftsforums Bremen und seine Mitgliedschaft im Bremer Tennis-Verein seien weitere Anker, die er ausgeworfen habe. »Diese Tätigkeiten und Hobbies mit dem mehrtägigen Pendeln zu vereinbaren, ist natürlich eine zusätzliche Herausforderung. Stärkt aber eben auch die Verbindung zum Wohnort.«

 

Ein Münchner als überzeugter Wahl-Bremer

 

Ein Münchner, der – wie er selbst sagt – aus Überzeugung in Bremen lebt. »Was ich an Bremen schätze, sind zum einen die hohe Lebensqualität und das Niveau der Lebenshaltungskosten. In München muss man ein überdurchschnittliches Maß des Einkommens fürs Wohnen ausgeben. Das macht es proportional anstrengender, in der Stadt mithalten zu können. Zum anderen gefällt mir der Bürgersinn in Bremen außerordentlich.« Als Beispiele nennt er den Bürgerpark, die zahlreichen Stiftungen, das Literaturhaus Bremen und den Kunstverein der Kunsthalle Bremen. »Einer der ältesten Kunstvereine in Deutschland übrigens.«

In Deutschland befinden sich einige der größten und bedeutendsten Airbus-Standorte. Bremen ist mit fast 2.100 Mitarbeitern der zweitgrößte Airbus Commercial-Standort in Deutschland und zuständig für die Konstruktion, Fertigung, Integration und Erprobung der Hochauftriebssysteme für die Flügel aller Airbus-Flugzeugprogramme. Mit Airbus Commercial Aircraft und Airbus Defence and Space – plus ArianeGroup, Testia und Premium Aerotec ist der Standort einzigartig bei Airbus

Überhaupt würden zwei Bereiche von Bremen komplett unterschätzt: die Kultur und das Angebot der Schulen und Hochschulen. »Was Bremen gut täte: dass die Internationalität und Diversität der Stadt sichtbarer würden. Ganz allgemein, aber natürlich auch mit Blick auf die Arbeitswelt. Die mittelständische Struktur in Bremen bietet tolle Chancen, es muss nicht immer der DAX-Konzern für die Karriere sein.« Ein Ort, der das seiner Ansicht nach noch zu wenig ausstrahle, sei der Flughafen. »Die Attraktivität des Ankommens sollte gesteigert werden, denn die übersichtliche Größe lässt ja nicht vermuten, was Bremen so zu bieten hat.«

 

Herausforderungen des Pendelns bewusst angehen

 

Das klare Bekenntnis zu einem langfristigen Zuhause, das für Ulrich Beck immer auch ein »wichtiger Ruheort« ist, habe natürlich auch seine Kehrseiten. »Na klar, es gibt auch Momente, in denen ich mir die Sinnfrage stelle. Als unsere Tochter noch kleiner war und ich mich montags in aller früh aufmachte, war das beispielsweise nicht immer einfach. Ich habe aber einen Umgang damit gefunden. So ist für mich zum Beispiel total wichtig, dass ich verlässlich zuhause bin und diese Verlässlichkeit auch einplane. Das setzt voraus, dass mir immer auch mögliche Unwägbarkeiten bewusst sind. Unwetterereignisse, die Flieger ausfallen lassen zum Beispiel. Da braucht es immer einen Plan B bzw. Pufferzeiten. Daran zu denken, ist am Anfang schwierig, weil der Job dominiert. Aber auch wenn es darum ging, wichtige Themen abzuarbeiten, war immer ein Weg zu finden, um noch nach Hause zu kommen. Rückschauend gab es tatsächlich nur wenige Momente, wo Verabredungen oder gemeinsame Termine gar nicht einzuhalten waren. Alles andere funktioniert auf Dauer nicht, wenn man Menschen hat, die zuhause warten. Und wenn es hart auf hart kommt, dann sollte die Familie natürlich schon vorgehen. «

Worauf man auch aufpassen müsse, sei die eigene Gesundheit. »Ich habe fünf Jahre lang an verschiedenen Standorten in Spanien gearbeitet. Auch diese große Strecke bin ich gependelt, nachdem wir gemerkt haben, dass unser ursprünglicher Plan, als Familie dort zu leben, nicht funktioniert. Für so etwas braucht man schon eine stabile Konstitution, sonst geht das an die Substanz.« Reisezeiten sind für Ulrich Beck daher mit wenigen Ausnahmen auch immer Ruhezeiten. »Ich kann zum Glück immer und überall schlafen. Das mache ich auch.«

Über die Umweltbelastung, die seine Inlandsflüge verursachen, spricht der Airbus-Mitarbeiter offen. »Ich kaufe Zertifikate, aber mir ist bewusst, dass das die Belastung nicht aufwiegen kann. Und es ist auch gut, dass über die Notwendigkeit von Kurzstreckenflügen diskutiert wird. Die Covid-Zeit, in der der Flugverkehr nahezu zum Erliegen kam und Unternehmen feststellen konnten, welche Reisen tatsächlich nötig sind und welche Anlässe vielleicht auch anders abgewickelt werden könnten, wird die Einstellung vieler nachhaltig verändern.« Das Pendeln, da ist sich der CFO sicher, wird weniger werden.

 

»Vor-Ort-Präsenz unverzichtbar«

 

Ganz aufs Pendeln nach München verzichten, auch wenn es technische Möglichkeiten wie MS Teams theoretisch erlauben, kann und will Ulrich Beck aktuell allerdings nicht. »Es gibt einfach Funktionen und Aufgaben, für die muss man mit den Menschen, mit denen man arbeitet, zusammenkommen. Bei mir ist das ein zentraler Teil des Arbeitsalltags. Man kann mit Tools sehr viel machen, aber es gibt Grenzen.«

Mit der Bahn nach München zu fahren, kostet den Wahl-Bremer mindestens 7 Stunden, dann kommt noch die Fahrt vom Hauptbahnhof zur Arbeitsstelle  hinzu, die rund 45 Minuten dauert. Mit dem Flugzeug ist er deutlich schneller und vom Münchener Flughafen erreicht er seinen Arbeitsplatz in zehn Minuten. »Die Wahl fällt dann natürlich aufs Flugzeug. Andernfalls wäre ich ja noch weniger Zuhause.«

Ob ihn das Pendeln XXL noch bis zum Ruhestand begleiten wird, glaubt Ulrich Beck nicht. »Das hat sich bei mir so ergeben, aber alles hat eine endliche Kurve. Man darf es nicht überdehnen.«

 

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