Bremen statt Burnout

»Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass ich Berlin wieder verlassen würde.« 12 Jahre lebte Nadia Boegli in der Hauptstadt, war mittendrin in der sich schnell drehenden Startup-Welt und folgte, unter anderem als Mit-Gründerin des nachhaltigen Unternehmens Wildplastic, ihrer Vorstellung von sinnstiftender Arbeit. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Bremen und erlaubt sich, was ihr in Berlin nie gelungen ist: eine bewusste Auszeit. Warum die Stadt an der Weser für sie die perfekte Umgebung ist, um sich neu zu sortieren, hat sie uns erzählt.

Text: Sandra Lachmann, Fotos: Shanice Allerheiligen

Geboren in New York, aufgewachsen in Zürich und Köln, Bachelor in Maastricht, Master und Berufseinstieg in Berlin – wenn Nadia ihren Lebenslauf zusammenfasst, wird schnell deutlich: Die 37-Jährige ist alles andere als der provinzielle Typ. Das Leben in der Großstadt mit all seinen Möglichkeiten begleitet sie ihr gesamtes Leben.

Berlin, wo sie ursprünglich nur für ein Praktikum Station machen wollte, zog sie am meisten in den Bann. »Berlin war so etwas wie die erste große Liebe, in die man sich Hals über Kopf verliebt, mit der dann alles absolut phantastisch ist und von der man glaubt, dass man für immer mit ihr zusammenbleibt.« Immer wieder schaute Nadia in der Hauptstadt nach Eigentumswohnungen. Die Stadt verlassen? Das kam in ihrer Lebensplanung überhaupt nicht mehr vor. 

 

Wer in einer NGO arbeiten will, geht nach Berlin

Auch deshalb, weil Berlin der place to be für alle ist, die in eine Non Governmental Organization (NGO) oder eine vergleichbare Einrichtung arbeiten wollen. Und das wollte Nadia seit sie als Jugendliche das erste Mal über ihren späteren Beruf nachgedacht hat.

 

Ein Job bei den Vereinten Nationen, davon hat sie damals geträumt. Am liebsten »draußen im Feld«.  Für ihre Master-These kehrte sie daher Jahre später bewusst in ihre Geburtsstadt New York zurück, um erste Erfahrungen bei der UNO zu sammeln. »Dabei bestätigte sich allerdings meine Vorahnung, dass dort nicht der richtige Ort für mich ist. Dass die Menschen dort anders sind, als ich es sein möchte.« Als Beispiel, das sie ausdrücklich nicht als repräsentativ verstehen möchte, ihr aber eindrucksvoll im Gedächtnis geblieben ist, erzählt sie von einer Szene aus der Generalversammlung: »Dort wurde gerade über Sexualgewalt an Kindern im Kongo gesprochen und gleichzeitig standen neben fast allen Frauen Designer-Handtaschen. Das fühlte sich nicht passend für mich an.« In Krisengebieten zu arbeiten, davor scheute die damals 27-Jährige allerdings inzwischen auch zurück. 

 

Weltverbesserin auf Jobsuche

»Also gut, dachte ich, dann gehe ich den Weg jetzt eben in Deutschland. Und weil fast alle NGOs in Berlin sitzen, bin ich dann dorthin gegangen.« Sie machte ihren Master im Fach Interkulturelles Konfliktmanagement, absolviert ein Praktikum bei Human Rights Watch und suchte dann nach einer Festanstellung.  »Den klassischen ersten Job bei einer Nichtregierungsorganisation zu finden war trotz der Vielzahl der Organisationen aber nahezu unmöglich. Es gab kaum Einstiegsmöglichkeiten. Ich fand einfach nichts und fing an mich zu fragen, ob das an mir liegt oder ob es einfach keine gute Übersicht gibt.«

Da viele ihrer  Kommiliton*innen vor dem gleichen Problem standen, wurde klar: Es fehlt eine Plattform, auf der sich an sinnstiftender Arbeit Interessierte über Einstiegs- und Jobangebote informieren können – bis Nadia sie 2012 mit zwei Freundinnen gegründet hat, in Form des  Startups tbd* Community. Ein »digitales Zuhause für Menschen, die die Welt verbessern möchten«, auf denen diese Menschen Jobs, Workshops, Kurse sowie Finanzierungsmöglichkeiten finden und sich gleichzeitig mit anderen Unternehmen, die ähnliche Visionen verfolgen, vernetzen können. Ein Karriereportal für alle, die »besser arbeiten wollen.«

 

Besser arbeiten: Geht das auch ohne Burnout?

Besser arbeiten – das bedeutet in der Szene, in der sich Nadia in ihrer Berliner Zeit bewegte: nachhaltig arbeiten, sozial engagiert sein, Ressourcen schonen, der Welt etwas geben statt ihr etwas zu rauben, mit Gleichgesinnten immer neue Projekte auf die Beine stellen. Mit einem klaren Wertekompass, viel persönlichem Einsatz und entgegen aller Widerstände an Ideen glauben und arbeiten. Eine anspruchsvolle Art der Arbeit, die sehr auslaugt, wie Nadia aus eigener Erfahrung weiß:

»Wenn es um Sinnfragen geht, wenn die eigene Persönlichkeit tief mit der Arbeit verbunden ist, dann ist es unglaublich schwer, abzuschalten. Es gibt sicher Menschen, die das können, aber ich persönlich kenne fast niemanden, der sich ganz stark an Impact orientiert, aber nicht kurz vorm Burnout steht.«

Nadia Boegli

2016 erwischte es auch sie selbst. Schon damals spielte Nadia mit dem Gedanken, eine lange Auszeit zu nehmen. Tabula rasa zu machen. Sich einfach mal berieseln zu lassen, um zu schauen, was sie wirklich will. Das kreative Talent, das sie schon in der Schule spürte, endlich einmal auszuleben. Doch dafür, so scheint es rückblickend, war Berlin nicht die richtige Umgebung. Zu lebendig war ihr Freundeskreis, zu vielfältig die Möglichkeiten, zu emotional die Bindung an ihre Kolleg*innen und ihr Startup. 

 

Von Berlin nach Bremen

Kurz bevor sie schwanger wurde, bröckelte dann plötzlich die Berlinliebe. »Nachdem ich in den gängigen Szenestadtteilen Prenzlauer Berg, Mitte, Friedrichshain und Kreuzberg gewohnt hatte, lebten mein Mann und ich damals in Neukölln. Plötzlich konnte ich den Lärm und die vielen Menschen nicht mehr ertragen. Wir sind dann ständig raus ins Grüne gefahren, aber es hat eben locker eine Stunde gedauert, bis wir überhaupt aus der Stadt waren und dann nochmal eine Stunde, bis wir so richtig in der Natur angekommen sind. «

Die beiden hätten zunächst über einen Umzug nach Charlottenburg nachgedacht, dann über einen Umzug ins Umland. Beide Varianten fühlten sich nicht rund an. »Wenn man seine Freunde eh nicht mehr eine Straßenecke weiter hat, dann können wir auch nochmal ganz woanders  hin, dachten wir.«

Und so zogen sie 2019 nach Bremen, in die Heimatstadt ihres Mannes, wo ihre inzwischen vierjährige Tochter in der Nähe zu ihren Großeltern aufwachsen kann. Sie nahmen Elternzeit – und wären sie in dieser Zeit zum Surfen nach Spanien gereist, Nadia hätte diese Elternzeit vielleicht direkt in eine persönliche Auszeit übergehen lassen. Doch dort, am Strand von Spanien, wo sie wie schon ein Jahr zuvor täglich fassungslos große Mengen angeschwemmten Plastikmüll aufgesammelt hatte, kreuzte Fridtjof Detzner ihren Weg. Besser gesagt: Ihre Tochter freundete sich zwischen Sandspielzeug und Badetuch mit ihm an und so kamen auch sie  ins Gespräch. Über Plastikmüll, Umweltschutz, Gründertum – und über das Vorhaben Fridtjofs, eine Öko-Startup zu gründen, das Plastikmüll sinnvoll wiederverwenden will. »Ich hatte sofort die typischen Schmetterlinge einer Gründerin im Bauch«, so Nadia. 2019 gehörte sie deshalb neben Fridtjof zu den Gründer*innen von Wildplastic statt sich die lange überfällige Pause zu erlauben.

 

Lockdown-Koller und Sinnkrise

Ein Jahr später: Corona. Mit der Pandemie kamen Lockdown-Koller und Sinnkrise. Zwischen Homeoffice mit Kind, Sorge um ihren erkrankten Vater und purposegetriebenen ToDos erlebte sich Nadia immer häufiger in einer Art und Weise, die sie irgendwann nicht mehr ertragen konnte. »Ich erinnere mich noch ganz deutlich an die Situation, die viele Eltern wochenlang erlebt haben. Mein Mann und ich saßen zuhause am Computer, arbeiteten beide jeweils für unsere Unternehmen, mussten telefonieren oder Angebote schreiben, aber nebenher wollte unsere Tochter natürlich auch ständig etwas von uns.« Oft sei eine aggressive Grundstimmung im Haus gewesen. 

»Ich weiß noch, dass ich meine Tochter häufig total genervt und angespannt zu Bett gebracht habe, obwohl ich dieses Abendritual eigentlich immer total mochte. Ich wollte einfach nur, dass sie endlich schläft.« Eine Situation, die Nadia zunehmend zu schaffen machte, weil Familie bei ihr an erster Stelle steht, wie sie sagt. »Davon war aber nichts mehr zu spüren. Ich habe meine Tochter nur noch wie eine ToDo-Liste behandelt. Gleichzeitig habe ich mir große Sorgen, um meinen Vater gemacht. Das war alles einfach zu viel« 

Einen Fokus finden, das wollte Nadia in dieser Situation – und rang sich schließlich durch, Wildplastic zu verlassen. »Und das war, obwohl ich das Team wirklich vermisse, für mich persönlich die absolut richtige Entscheidung.«

Etwas mehr als ein Jahr ist Nadia nun nicht mehr erwerbstätig. Hat sich in dieser Zeit eine kleine Werkstatt zum Goldschmieden eingerichtet und nimmt VHS-Kurse, um diese Handwerkskunst zu erlernen. Mit ihrer Tochter verbringt sie viel Zeit rund ums Weserstadion – Longboard fahren und skaten  – oder im Bürgerpark. 

 

»In Bremen vergleiche ich mich nicht mehr mit anderen.«

Bei all dem erlaubt sie sich, nicht zu wissen, wie es weitergeht. Eine Situation, die sie sich so in Berlin nicht hätte vorstellen können. »In Berlin war ich immer im Außen suchend. Hab mich gefragt, was andere von mir denken können. Weil in Berlin scheinbar alle alles hinbekommen. Es gibt ganz viel female empowerment in der Stadt, aber das geht auch damit einher, dass es viele Frauen gibt, sie scheinbar mühelos alles stemmen.« Sich damit andauernd zu vergleichen, mache mürbe.

 

»Hier in Bremen vergleiche ich mich nicht mehr. Irgendwie ist die Stadt wohltuend bodenständig, ohne langweilig zu sein. Ich habe das Gefühl, dass es hier in Ordnung ist, auch mal nur Mutter oder Vater zu sein statt alles mitzunehmen, was das Leben an Chancen bietet. Vermutlich wäre es in Berlin genauso okay, aber die Geschwindigkeit der Stadt, die vielen Menschen und deren Vielfalt machte es mir einfach nicht möglich, das zu erkennen.«

Manchmal, so gibt sie offen zu, merke sie schon, dass sie sich für ihre Auszeit rechtfertigen möchte. »Mir fiel die Entscheidung ja damals wirklich nicht leicht. Und klar, uns fehlt jetzt natürlich auch ein Einkommen. Aber wir kommen gut zurecht, schon deshalb, weil Bremen auch bei den Lebenshaltungskosten ein moderates Niveau hat.« Den Schritt zur Auszeit seien sie und ihr Mann ohnehin mit der Übereinkunft gegangen, ihn wieder rückgängig zu machen, wenn er mehr Nachteile als Vorteile bringt. Was nicht passiert ist. “Und wer weiß, vielleicht gründe ich ja doch wieder.”

 

Auch eine Arbeitsbeziehung ist eine Beziehung

In letzter Zeit beobachtet Nadia zunehmend, dass ihre Lust, wieder in den Joballtag einzusteigen, wächst. Dabei kann sie sich durchaus auch eine Aufgabe vorstellen, die nicht in dem umfassenden Maße Sinn stiftet wie ihre bisherigen. Wichtig sei für sie aber die Kultur, in die eine Anstellung eingebettet ist.

»Ich höre von Freundinnen und Freunden noch immer Geschichten aus dem Arbeitsalltag, bei denen ich wirklich Gänsehaut bekommen. Führungskräfte müssen dringend mal verstehen, dass sie im wortwörtlichen Sinne eine Beziehung zu ihren Teammitgliedern aufbauen. Und für die gilt das gleiche wie für Liebesbeziehungen: In dieser Beziehung muss man den Gegenüber mit all seinen Charakterzügen, seiner Geschichte, seinen Stärken und Schwächen wahrnehmen wollen. Wir geben unsere Persönlichkeit ja nicht an der Tür zur Arbeitsstätte ab, was total gut ist. Wenn wir in der Arbeitswelt dort hinkämen, das mehr zu berücksichtigen, könnten unglaublich gute Sachen entstehen.«