Socialtecture: Am Europahafenkopf werden Wohnen, Arbeiten und Leben vereint

 

Am Europahafenbecken in der Bremer Überseestadt entsteht ein neues Quartier. In dessen Zentrum: vier Gebäude mit markanten Silhouetten. Hier sollen Wohnungen, Gewerbe- und Büroflächen sowie Freiräume für Freizeit- und Erholungsangebote Platz finden.  Derzeit werden noch einige letzte Arbeiten erledigt. Ich durfte trotzdem schon einmal einen Blick in das Lofthaus Nord werfen, in dem Placemakerin Saskia Behrens zwei besondere Musterwohnungen eingerichtet hat.

Text: Elena Tüting; Fotos: Shanice Allerheiligen

 

Saskia Behrens ist eine kreative Bremer „Macherin“. Sie führt die Designwerkstatt Kalle in der Neustadt und ist als Fellow für das Kompetenzzentrum für Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes aktiv. Heute führt sie mich mit Helm ausgerüstet in eines der vier großen roten Backsteingebäude, die mit gezackten Dächern und größtenteils noch in Baugerüste eingepackt am Europahafenkopf stehen.

Saskia ist als sogenannte »Placemakerin« Teil des Teams von JES, die damit beauftragt wurden, Leben ins Quartier zu bringen. In erster Linie ist sie als Kuratorin auf der Suche nach originellen inhabergeführten Läden und innovativen Initiativen für die Gewerbeflächen, um diese nicht den identitätslosen Ketten zu überlassen. JES versteht sich als Netzwerk für eine sozialere Stadtentwicklung. Als »Dienstleister des Möglichmachens« unterstützen sie interessierte Unternehmen bei der Umsetzung ihrer Ideen in der Stadt mithilfe von Expert:innen aus verschiedenen Bereichen wie Stadtplanung, Kommunikation, Kultur oder Finanzen.

Künstlerin Inga Krause mit Norman Kanter von der Kalle Co-Werkstatt
Saskia Behrens auf der Baustelle am Europahafenkopf

Saskia Behrens ist durch eine Ideenmeisterschaft zum Thema Innenstadtentwicklung in Bremen, zu der die Stadt sie eingeladen hatte, auf JES aufmerksam geworden. Dabei hat sich gezeigt, dass sie mit ihrer Herangehensweise und dem Netzwerk in die Kreativszene die perfekte Person ist, um den neuartigen Ort am Europahafenkopf zu gestalten und dabei auf die neu entstehenden Räume aufmerksam zu machen. Kurz gesagt: Sie gestaltet Projekte, die zur Entwicklung des Quartiers beitragen.

 

Zwei Musterwohnungen – zwei Zielgruppen

 

Wegen eines dieser Projekte sind wir gekommen: Zusammen mit Kalle-Mitbegründer Norman Kanter und der Künstlerin und Illustratorin Inga Krause hat Saskia im Lofthaus Nord zwei Musterwohnungen eingerichtet, die so gar nicht „musterhaft“ und „austauschbar“ sind, wie es für Musterwohnungen sonst üblich ist. Wir wollten herausfinden, was hinter dieser Idee steckt und was hinter dem Konzept der Socialtecture steckt, mit dem JES das Bauen neu denkt. 

„Musterwohnungen? Wozu braucht man die überhaupt? Meist sehen die doch aus wie aus dem Möbelhauskatalog und am Ende richtet man sich doch komplett anders ein“, dachte ich. Aber als ich dann tatsächlich in den Musterwohnungen von Saskia Behrens stehe, wird sichtbar, dass dahinter ein anderes Konzept steckt. Sie erklärt mir ihre Herangehensweise:

»Wenn man hier hereinkommt, will ich bei den Menschen Emotionen wecken, das Gefühl von: Hier bin ich zuhause, hier lümmel ich mich direkt aufs Sofa! Die Wohnungen sollen auch einen Wiedererkennungswert haben, der über die grundsätzlichen Daten von Quadratmeterzahl, Schnitt und Miethöhe hinausgeht.«

 

Die erste Wohnung, die größere der beiden Musterwohnungen, hat drei Zimmer, zwei kleine Bäder und eine schicke Küchenzeile. Sie ist praktisch geschnitten und damit ideal für eine kleine Familie. Auffälligster Blickfang ist die blaue Wand im Wohnzimmer, vor der ein senfgelbes Sofa zum Lesen und Filme gucken einlädt. »Die blaue Farbe hat auf der Baustelle erst für Skepsis gesorgt.“, erzählt Saskia Behrens.

Doch die Farbe ist eine bewusste Entscheidung. Sie zeigt, dass es hier gerne bunt und auffällig sein darf, dass Vielfalt willkommen ist und eine schöne Einrichtung nicht immer teuer sein muss. Deshalb ist die Wohnung nicht mit teuren Designermöbeln ausgestattet, sondern eine Mischung aus Retrolook, unter anderem von den Bremer Vintage-Möbelladen »Wedderbruuk« und IKEA-Möbeln, die individuell zusammengesetzt und gestrichen zu Einzelstücken werden. So wie der Schrank im Kinderzimmer, der dem Bremer Rathaus nachempfunden ist. 

Für die Gestaltung des Kinderzimmers sowie viele kleine Details ist die Künstlerin Inga Krause verantwortlich. Die erst kürzlich nach Bremen gezogene Illustratorin hat in der Wohnung typische Bremen-Elemente in Stoff und Holz umgesetzt. So liegt auf dem Sofa ein Kissen, das dem Konterfei des Bremer Rolands nachempfunden ist, im Wohnzimmer steht in Anlehnung an die Bremer Stadtmusikanten ein Schaukelhund, den Norman Kanter in akkurater Handarbeit als Unikat angefertigt hat, der Hahn hängt als Stoffgemälde an der Wand und ein kleiner Eselskopf dient als Haken für die Kindergarderobe. 

Inga Krause ist nicht die einzige lokale Künstler:in, der Saskia Behrens in den Musterwohnungen eine Bühne bereitet hat. Dazu gehört auch Phil Porter mit seinem Buch »Rom des Nordens«, die Kosmetiklinie von Mari&Anne, Blumen aus dem Viertelladen »Stuff« oder Julia Neuhäuser, die mit ihrem Label »getting bedder« zum Beispiel Skateboards zu Polstermöbeln upcycelt, von der ein Skateboardhocker im Flur als Sitzgelegenheit dient. Mit den dadurch aufgerufenen Themen wie Reisen, Nachhaltigkeit und Kreativität möchte Saskia Behrens junge Familien ansprechen, die in der Wohnung bereits viele Ideen für die Gestaltung finden können.

 

Knallige Lebendigkeit versus schwarz-weiße Eleganz

 

Die zweite Wohnung hat auf 78 qm zwei Zimmer, eine abgetrennte Küche und ein größeres Bad und kann mit einem spektakulären Blick auf das Wasser des Europahafens beeindrucken. Die Sonne strahlt durch die bodentiefen Fenster auf den schlichten runden Tisch und die schwarz-weiß gestreifte Couch im Wohnzimmer. Als Zielgruppe hat sich Saskia Behrens bei dieser Wohnung eher ein kinderloses Paar oder eine alleinstehende Person vorgestellt, die viel Wert auf Lifestyle und Design legt. Das zeigt sich in dem stilvollen Schwarz-Weiß Look der Einrichtung, die unter anderem von europäischen Labels wie »Ferm living« oder »Broste Copenhagen« stammen. 

Erneut schmücken auch in dieser Wohnung lokale Produkte wie Keramikaccessoires vom »Mugshop« oder ein Likör von Birgitta Rust , die ihren Laden »Piekfeine Brände« bereits am Europahafen hat, die Regale. Diese Einbindung von lokalen Produkten soll bereits die Synergien aufzeigen, die entstehen könnten, wenn sich sowohl Läden, Gastronomie und Mieter:innen, in dem Gebäude eingefunden haben. Denn auch das gehört zu einem Zuhause dazu: Individuell ausgewählte Produkte und Accessoires, persönliche Kontakte zwischen den Ladenbetreiber:innen und den Bewohner:innen, die ein soziales Netzwerk auf privater und beruflicher Ebene entstehen lassen. Das ist eins der Ziele, das JES mit dem von ihnen erschaffenen Konzept der Socialtecture verfolgen:

 

»Wir bringen alles, was Leben, Emotionen und Vielfalt, alles was Menschlich ist, in die Gestaltung der Räume ein. Das wird in der Architektur und in der Baubranche noch viel zu wenig gelebt, dass vom Menschen aus gedacht wird.« 

 

Mehr Vielfalt und Leben in der Überseestadt

 

Diese Feststellung wird mit Blick auf die Überseestadt deutlich. Architektonisch zeigt das Quartier, dass Bremen nicht nur durch die heimelige Optik der Altbremer Häuser besticht, sondern ebenso modernes skandinavisches Design mit alten Industriehafengebäuden verbinden kann. Doch bisher findet in diesen Gebäuden vor allem Arbeit statt. Nach Feierabend und am Wochenende fehlt es an Angeboten, die die Menschen hierhin ziehen. 

Das will Saskia Behrens für die Zukunft des Europahafenkopfkomplexes ändern: »Mein Motto ist ‚Not another Klotz‘ – das Wichtigste ist hier all das zu versammeln, was die Menschen brauchen, damit das ihr Lebensmittelpunkt wird.« Der Grundgedanke hinter Socialtecture ist es Mehrwerte zu schaffen, indem man die menschlichen Bedürfnisse in den Vordergrund stellt und das kann ganz unterschiedlich aussehen, wie sich im Falle des Europahafenkopfes zeigt.

Auf der eine Seite durch die Suche nach kreativen Menschen, die mit ihren vielfältigen Geschäftsideen rund um Gastronomie, Design, Kultur- und Freizeitangebot die Ladenräume im Erdgeschoss beleben, auf der anderen Seite durch Musterwohnungen, die ganz unterschiedliche Menschengruppen ansprechen und zeigen, dass sich hier nicht nur die gutverdienenden Anzugträger:innen wohlfühlen können. 

Das wird auch dadurch unterstützt, dass das Gebäude mit 30% Sozialwohnungen ausgestattet ist, die Wohnungen nicht gekauft, sondern nur gemietet werden können und die Aufteilung und Quadratmeterzahlen der Wohnungen auf ganz unterschiedliche Bedürfnisse zugeschnitten sind. Ich bin zumindest überzeugt und warte gespannt darauf, wie der Ort bald zum Leben erwacht.

 

Ihr wollt noch tiefer in das Konzept der Socialtecture erfahren? Dann hört unbedingt mal in diese Podcastepisode mit der Gründerin von JES, Julia Erdmann rein: Was ist Socialtecture?